Nobelpreis für Literatur 2022
»Das Schwarz-Weiß-Foto eines Mädchens in dunklem Badeanzug auf einem Kieselstrand. Im Hintergrund eine Steilküste. Sie sitzt auf einem flachen Stein, die kräftigen Beine ausgestreckt, die Arme auf den Felsen gestützt, die Augen geschlossen, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie lächelt. Ein dicker brauner Zopf fällt ihr über die Schulter, der andere verschwindet hinter ihrem Rücken. Offensichtlich imitiert sie die Pose der Filmstars aus Cinémonde oder aus der Werbung für Ambre-Solaire-Sonnenmilch und will so ihrem demütigend unreifen Kleinmädchenkörper entfliehen. Auf ihren Schenkeln und Oberarmen zeichnet sich der helle Abdruck eines Kleides ab, ein Hinweis darauf, dass ein Ausflug ans Meer für dieses Kind eine Seltenheit ist. Der Strand ist menschenleer. Auf der Rückseite: August 1949, Sotteville-sur-Mer.«
Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, de Gaulle, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die so genannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, die uneingelösten Verheißungen der Nullerjahre, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind. Und dabei schreibt sie ihr Leben – unser Leben, das Leben – in eine völlig neuartige Erzählform ein, in eine kollektive, »unpersönliche Autobiographie«
Sehr schön. Ernaux erinnert und reflektiert anhand von Fotografien und Videoschnipseln die Zeit von Ihrer Geburt 1940 bis ins 21. Jahrhundert. Das ist zum einen (stellenweise natürlich sehr französisch geprägte) Zeitreise, die an Liedern, Konsumgegenständen, Politikern und Ereignissen vorbeiführt. Dabei ist das angenehm verdichtete Buch keine Zeitgeschichte, vieles wird übersprungen oder nicht erwähnt, wenn es die Autorin nicht interessiert. Zum anderen ist es aber auch eine soziologische Betrachtung wie sich die Gesellschaft, Bild und Rolle der Frau, Konsum und Konsumverhalten entwickelt haben. Das liest sich extrem spannend.
Oliver S., Sandhausen